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Bernhard Balkenhol

Milieu und Fazies

Was für gläubige Menschen der Kirchenraum, ist der White Cube für den, der sich auf Kunst einlassen möchte. Es ist ein Aus-Raum, ein Raum, in dem Zeit und Raum, Vernunftlogik und Pragmatismus angesprochen und gleichzeitig aufgehoben werden können, in dem Faszination und Fantasie Platz greifen und Fragen gestellt werden können, auf die es keine – vernünftigen – Antworten geben kann. Es ist ein Unmöglichkeitsraum, in dem materiale Schwere immaterielle Leichtigkeit gewinnen kann und umgekehrt.

Künstlerinnen und Künstler vermögen es mit ihrer Kunst, diese Widersprüchlichkeit, dieses Denken in Undenkbarkeiten, diese Gleichzeitigkeit von Vorher, Nachher und Jetzt zu nutzen und greifbar zu machen. Und wenn man die Objekte und Papierarbeiten von Emilia Neumann betrachtet, auch wie sie präsentiert sind, so merkt man, dass die eben verwendeten Worte Gestalt angenommen haben.

Seltsame Objekte hängen aufgereiht im Raum. Bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass es offenbar Abgüsse sind, und dass es für alle ein einziges Ausgangsobjekt gab. Ablesbare Formen und Details wie Griffe und Verschlüsse lassen vermuten, dass es ein Surfbrett ist. Die Grundlage dieser unförmigen und offenbar schweren Skulpturen ist also ein Sportgerät, dass es ermöglicht, auf Wellen zu gleiten, sich tragen und treiben zu lassen, auf einem leichten Brett stehend durch geschicktes Steuern fantastische Geschwindigkeiten zu erreichen. Dabei muss der Körper sich einerseits völlig und ganz einlassen, sich gehen lassen, sich aber andererseits auch konzentriert spüren und reagieren auf die Kräfte, denen er sich aussetzt. Das Vergnügen besteht darin, die Balance zu halten, zu „stehen“ und dieses Spiel der Kräfte zu genießen. Ganz kontraproduktiv dabei sind Angst oder Überheblichkeit, engstirniges Können oder populistische Show. Damit hat man schnell verloren und fällt ins kalte Wasser – wie in der Kirche und im White Cube auch. 

Emilia Neumann hat die Form dieses Surfbretts mit Silikon abgenommen. Das ist nach dem 3D-Scan die heute exakteste Möglichkeit, eine Form 1:1 zu reproduzieren. Allerdings hat sie das nicht getan, um ein neues Surfbrett zu bauen, einen Klon, was möglich wäre, sondern um mit dieser Negativform künstlerisch umzugehen. Sie hat die Silikonform verdreht, verknautsch, gestaucht, etc. und dann diese mögliche-unmögliche Form mit Gips gefüllt. Was für ein Unsinn an Surfbrett!

Zusätzlich hat sie den Gips mit Farbpigmenten vermischt, sodass eine Art gewachsenes Gestein, an manchen Stellen auch eine Marmorstruktur entsteht. Das Ergebnis ist ein seltsam gewordener Brocken, eine Art Findling, der wie in einer Versteinerung ein in früherer Zeit eingeschlossenes Lebewesen enthält. Man könnte „das Tier“ den „gemeinen Surfling“ nennen oder vielleicht „die flundrige Brettmoräne“, deren Vorkommen besonders an der Küsten Marokkos nachgewiesen wurde oder an denen von Florida, bevor die großen Trump-Stürme sie verwüstet und verölt haben. – Nein, nochmal: Was für ein Unsinn!

Emilia Neumann hat sie an Gymnastikbändern – auch ein Sportgerät – hochgelupft, so wie man mit Tauen Schiffe aus dem Wasser und zum Trocknen und Renovieren an Land zieht. Nein, wieder Unsinn! Sie sind aufs Parkett des Museums gezogen, als Objekte für das bewundernde Auge und für künstlerisch-wissenschaftliche Forschung. Die erstere Frage lautet: „Wie toll sieht das denn aus?“, die zweite: „Was ist wie warum so geworden? Und was ist das dann?“. 

„Milieu und Fazies“ hat Emilia Neumann ihre Ausstellung genannt, das Ergebnis ihres dreimonatigen Aufenthalts in Willingshausen, ihrer Arbeit in den zwei Garagen, die ihr eigens für ihre bildhauerische Arbeit zu Verfügung gestellt wurden. 

„Milieu“ und „Fazies“ kennt man vielleicht als Begriffe aus dem Erdkunde- oder Biologieunterricht. Sie bezeichnen zwei wesentliche Zustände eines Gegenstandes: das Gesicht, die Erscheinungsform – Fazies, und die Umgebung – Milieu, in der er vorkommt, die ihn genährt, geformt und lebendig gemacht hat.

Von beidem aus kann man ein Objekt betrachten und in beide Richtungen Fragen stellen – Fragen nicht nur nach dem Zustand, sondern auch nach dem Prozess des Werdens in Vergangenheit und Zukunft. Das ist Forschung: ein Bezugsfeld von Bedingungen und Möglichkeiten festzustellen und zu vergleichen, um daraus Gesetzmäßigkeiten abzuleiten oder als Modell zu entwerfen, um die Welt der Erscheinungen zu verstehen und zu erklären – nicht zuletzt: zu nutzen. 

Kunst aber forscht nicht nur an den Tatsachen, den Materialen, sondern wechselt immer wieder auf die Metaebene, sie spekuliert und reflektiert mit allen nur möglichen Bezugssystemen, und bleibt dabei nicht „vernünftig“ sondern „frei“. Sie schafft dabei „Bilder“, keine Realitäten. Keiner würde auf die Idee kommen, mit diesen brockigen Surfbrettern aus Gips ins Meer zu steigen. So ein Unsinn! 

Aber welchen Sinn macht dann Kunst – oder machen solche Surfbretter? Sie könnten uns zunächst faszinieren, d.h. auffordern, den Dingen ins Gesicht – Fazies – zu sehen, sich zu wundern – wer glaubt noch an Wunder? – und deshalb Fragen zu stellen. Sie könnten uns also auffordern, genau hinzusehen und zu beobachten. Sie könnten uns aber auch aufmerksam machen auf die Bezugssysteme, in denen solche „Dinge“ oder wir alle stehen, sie auf ihre Relevanz zu prüfen und mit Auswirkungen zu rechnen. Dann würden wir uns trauen, den egozentrischen Populisten, die behaupten, Wissenschaft und Kunst lügen (!) entgegenzutreten. Kunst in dieser Form könnte uns auch ermutigen, auf Schönheit zu bestehen, deren Voraussetzung immer auch Bescheidenheit und Achtung ist – das also, was ein guter Surfer braucht. Kunst kann nicht zuletzt in der Zukunft denken, d.h. diese Surfbretter – in der Fantasie – weiterleben lassen, um zu sehen, was dann wird. Das kann übrigens auch sehr lustig sein, wenn man versucht, sich körperlich und mental in diese Objekte und durch sie dann ausgelöste Befindlichkeiten hineinzuversetzen. 

Emilia Neumann kann als Künstlerin sogar von der Zukunft ausgehen, statt sich und eine Problemstellung dorthin zu denken, so wie sie es mit ihren Papierarbeiten getan hat. Sie arbeitet dabei wie eine Alchimistin, die auf der Suche nach den Gesteinen der Weisen ist, oder den Wahrheits-Sagerinnen, die die Zukunft im Jetzt lesen können. Diversen flüssigen Substanzen, deren Zusammensetzung sie nicht preisgibt, mischt sie Farbpigmente unter und lässt sie fließen. In einer Art gezieltem Zufall und aus der Bewegung ihres Körpers heraus entstehen so interessante Blätter, die voller Sichtweisen sind. Sich damit nicht festzulegen, sondern sie als Zustand der Betrachtung zu begreifen, bedeutet ganz konkret, sich nicht mit der Assoziation „Berg“ zufrieden zu geben, sondern das Blatt umzudrehen, den „Berg“ „Tropfen“ werden zu lassen, Mikro- und/oder Makrokosmos entstehen zu lassen, oder einfach nur „Flüssigkeit“ zu sehen, die von der Seite ins Blatt fließt. 

Wieder ist es das konkrete Gesicht, die Ansichtigkeit, auf der einen Seite und das Porträt, d.h. die Person mit ihrer Geschichte, ihrem Charakter, die hinter dem Gesicht gelesen werden möchte, auf der anderen. Deshalb ist die Hängung, d.h. die Präsentation hier auch eine vorläufige, mögliche, nur eine Momentaufnahme. 

Nicht unerwähnt soll bleiben, dass Emilia Neumann mit dieser Arbeitsweise auch die alten Kategorien wie Skulptur und Malerei in Frage stellt. Zwar zitiert sie bewusst medien-spezifische Arbeits- und Wirkungsweisen wie das Abformen als bildhauerische Technik, das Einfärben von Material als Fake oder das Anmischen von Farbe auf der Basis von Pigment und Bindemittel, aber die Grenzen fließen schnell. Man könnte sogar das alles, d.h. das künstlerische Wahrnehmen, Denken und Handeln als eine Art Auf-Zeichnung verstehen, dann wäre es weder Malerei noch Plastik, sondern das Prinzip, dass sich geeignetes Material und geeignete Technik jeweils aus der künstlerischen Forschung heraus ableiten, definieren und begründen lassen muss. 

Das Surfbrett ist deshalb vielleicht nicht nur ein zufällig gefundenes interessantes Objekt für ihre Auseinandersetzung, sondern als solches selbst eine Metapher für Emilia Neumanns spezifische Form künstlerischen Arbeitens. Dann gälte es auch für den letzten Moment des Surfens. Am Ende, wieder zurück am Strand, kann der Surfer das Surfen als solches nicht mitnehmen, kann es nicht in die Tasche stecken, er hat nur das Brett in der Hand und dieses besondere Gefühl, das oben beschrieben wurde, um damit ein nächstes Mal wieder aufs Meer zu steigen. Das macht süchtig – wie die Kunst.

 

 

Bernhard Balkenhol

Milieu and Facies

What the church is to believers, the white cube is to those who want to engage in art. It is an external space, a space in which reason and pragmatism is considered within the context of time and space, yet where they are simultaneously set aside too. It is a space in which fascination and fantasy can take hold and where questions can be asked that have no—reasonable—answers. It is an impossible space in which material of great weight can assume the lightness of immateriality, and vice versa.

Artists like to make tangible this contradiction, this thinking the unthinkable, the simultaneity of the before, after and now, through their art. And when one observes the objects and works on paper of Emilia Neumann, how they are also presented, so it is that one also notices the aforementioned words taking shape.

Strange objects hang in rows in the space. On closer inspection, one realises that these are quite evidently casts and that all of them originate from one object. Readable forms and details like grips and fasteners lead one to suspect that it is a windsurfing board. The foundation for these misshapen and clearly heavy sculptures is thus sports equipment that allows one to glide along waves, which can also carry and propel one forward. One is able to stand on a light board and, through skilful manoeuvring, be able to reach fantastic speeds. On the one hand, the body has to open itself completely, to let go, while on the other hand, it has to feel and react in a concentrated manner to the forces it is exposed to. The pleasure consists in maintaining balance, staying upright and enjoying this play of force. Fear or arrogance, petty skill or populist spectacle—all play quite a counterproductive role. In so doing, one fails fast and falls into cold water—just like being in church, and in the white cube too. 

Emilia Neumann made an impression of the windsurfing board shape with silicone. Besides the 3D scan, this is the most precise technique available nowadays to reproduce a shape in 1:1 dimensions. She did not, however, do this to produce a new board, a clone, which would be possible. Instead, it was so she could carry out an artistic approach to this negative form. Among other things, she twisted, crumpled, and compressed the silicone form, filling this possible-impossible mould after that with plaster. So much nonsense over a windsurfing board!

Furthermore, she mixed the plaster with colour pigments to create a kind of grown rock, whereupon a marble structure resulted in some places too. The outcome is a strange boulder, a sort of glacial erratic, which, as though caught in a fossilisation, contains a living being that was encased in earlier times. One could call this ‘animal’ the ‘common surfling’, or perhaps the flatfish-like ‘board moray’, whose existence has been proven, particularly on the coastlines of Morocco or Florida, before the great Trump Storms destroyed those parts and left them covered in oil. Oh no, not again—what nonsense!

Emilia Neumann raised them using gymnastics straps, yet another form of sports equipment, in the same way that ropes are used to pull ships out of the water and onto land for the purposes of drying and maintenance. No, absolute nonsense again! They relocate onto the museum’s parquet floor to become objects of admiration, and for artistic and scientific research. The first question is, ‘How amazing does that look?’ The second is, ‘What, how, and why has it become like that? And what exactly is it then?’  

Emilia Neumann titled her exhibition Milieu und Fazies, which is the result of her three-month stay in Willingshausen, the work she made in two garages that were made available to her especially for her sculptural work.

Milieu und Fazies (milieu and facies) are terms perhaps known by some from geography or biology lessons. They refer to two essential states of an object: the face, the appearance—facies, and the environment—a setting in which it occurs, where it is nurtured, shaped and given life.

From the basis of these two terms, one can view an object and pose questions in opposite directions—questions that not only relate to the state, but also the process of becoming in the past and future. This defines the process of research: to determine and compare a field of reference involving conditions and possibilities in order to derive principles from it, or to design it as a model, to understand and explain the world of phenomena. Not least in importance: to use it.

However, art not only explores facts and materials, it also repeatedly changes positions on a metaphorical level. It speculates and reflects on all possible systems of reference, so as to persist in being not ‘reasonable’, but instead ‘free’. Art creates ‘images’, not realities. No one could possibly think of leaping into the sea with these unwieldy windsurfing boards made of plaster. What nonsense!

Yet what sense is there then in art—or in such windsurfing boards? They could initially fascinate us, meaning they could invite us to face certain aspects—facies—to see, to wonder. Who still believes in wonders? So, to ask questions too. They could therefore also challenge us to scrutinise and to observe. Yet they could also make us aware of the reference systems in which such ‘things’ or all of us are found. We would test them for their relevance and expect to see consequences. Then we would dare to oppose the egocentric populists who claim that science and art lie (!). Art in this form could also encourage us to insist on beauty, for which modesty and respect is always a requirement—attributes that a good windsurfer needs. Last but not least, art can think in the future, meaning allowing these boards to live on—in the imagination—to see what happens next. It can be very amusing, by the way, if you try to put yourself physically and mentally in these objects, and through them consider the sensitivities they trigger.

As an artist, Emilia Neumann can even take the future as a starting point, as can be seen in her works on paper, instead of working through a thought and questioning process to arrive there. As she does so, she works like an alchemist in search of the stones of the wise, or the truth tellers who can read the future in the present. She mixes colour pigments into various liquid substances, whose composition she does not reveal, and lets them mingle. Through a kind of intentional coincidence and through her body movement, interesting works emerge that are abundant in viewpoints. By not committing oneself and rather understanding it as a state of observation, it quite clearly means not being satisfied with just an association of a mountain, preferring instead to turn the page over and to let the ‘mountain’ become ‘drops’, to let a micro- and/or macrocosm emerge, or simply to see ‘liquid’ flowing into the page from one side.

Yet again, there is the actual face, the view, on the one hand, and the portrait on the other hand, meaning a person with a story and character, who wants what lies behind that face to be read. The hanging, which concerns the form of presentation here, is also only an initial and possible snapshot.

It should not go without mentioning that Emilia Neumann’s working method also calls into question old categories such as sculpture and painting. Although she deliberately quotes media-specific approaches to working and their impacts, such as casting as a sculptural technique, colouring material as a notion of what is fake, or mixing paint on the basis of a pigment and binding agent, the boundaries flow rapidly. One could even consider all of this, in the sense that the artistic perception, thinking and acting, is a kind of recording process. It would then be about neither painting nor sculpture, but the principle that suitable materials and techniques must be derived, defined and justified through artistic research.

For Emilia Neumann the windsurfing board is therefore perhaps not simply an interesting object arrived at by chance, but is itself a metaphor for her specific artistic approach. Then it would also apply to the last windsurfing moment. In the end, back on the beach, the windsurfer cannot take windsurfing as such with them—cannot just pocket it. Only the board and the special feeling previously described, can accompany the windsurfer back out to sea the next time. This is addictive—just as art is.

 

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