In Ectasium
Als ob körperliche Überreste im Raum schwebten. Ausgeweidete Kadaver, abgezogene Häute, aufgespannte Felle – zerknautscht, zerfurcht, sich schmerzhaft windend. Eine träge Masse, gegen die Schwerkraft an metallenen Ketten aufgehängt. Ein Farbrausch von Orange-Rot-Erdig zu Magenta, Blau, Lila, Graugrün. Bewegt trotz des fixierten, stillgestellten Moments.
Ectasium (2021/2022) nennt Emilia Neumann die neu geschaffene Werkgruppe organisch-technoider Gebilde, alle uniform und individuell zugleich. Ihre Objekte sind mit einem Blick nicht zu erfassen. Sie animieren den Betrachter, die Betrachterin zur Bewegung. Sie legen Hinweise und Fährten aus, sie wollen erforscht, von jeder Seite inspiziert werden. Folgt man dieser Aufforderung, entdeckt man Reste von Reifen und Radkappen, Sitzflächen, Schriftzüge, Schrauben, Verschlüsse, Nieten und Noppen. Muster und Strukturen geben ein höchst detailreiches und doch auch abstraktes Bild. Ein Abbild. Emilia Neumanns Objekte sind stets Referenzen, ihre – wenn man so will – Originale findet sie in Wegwerfprodukten unserer Konsumwelt, deren Verfallszeit oder Auslöschung sie künstlich stoppt. Fortbewegungsmittel, Sportgeräte, Designobjekte und Architekturelemente formt sie mittels Silikon ab und verändert diese Abdrücke zu immer wieder neuen, eigenständigen Formen, die sie schließlich mit Gips oder Beton und darin aufgelösten Farbpigmenten ausgießt. E.R.S. I (Elektra) wandelt sich so von einem recht klar definierten Abguss eines Motorrollers zu einer annähernd symmetrischen Form, die an weibliche Eierstöcke erinnert (E.R.S. II), nur um diese Assoziation in den weiteren Versionen wieder zu zerstreuen (Abb. S. XX – XX). Sie pflanzen sich zu aufgetürmten Gesteinsformationen fort, in denen sich Fundstücke und Spuren ablagerten. Statt urzeitlicher Schnecken- und Blattabdrücke sind es in Neumanns Ectasium solche technischen und menschlichen Ursprungs. Wird derart unser (ökologischer) Fußabdruck aussehen; die Hinterlassenschaft des Anthropozäns, dem maßgeblich vom Menschen beeinflussten Zeitalter? Seit der Industriellen Revolution sind die Auswirkungen der menschlichen Lebensweise auf die Umwelt so massiv, dass sie noch in hunderttausend Jahren ihren Nachhall haben werden. Neumanns Objekte lassen sich also als Fossilien einer fernen Zukunft denken. Ihre opulente Farbigkeit ist kein späterer Anstrich, sondern – wie beim Sedimentgestein – fester Bestandteil der Arbeiten, sie durchdringt das Material von innen heraus. Durch den flüssigen Gips getrieben, verteilen sich die Pigmente im Herstellungsprozess beinahe selbstständig. „Zufall trifft auf vorbereiteten Geist“, formuliert es die Künstlerin.
Die Methode des mehrmaligen Abgusses einer Ausgangsform wendet Emilia Neumann auch bei den jeweils vierteiligen Wandobjekten E.M.P. I (2022) und E.M.P. II (2022, Abb. S. XX – XX) an. War es bei den oben beschriebenen Werken E.R.S. I bis E.R.S. IV der negative Silikonabdruck, den sie zwischen den einzelnen Güssen veränderte, ist es nun die Vorlage selbst, der sie verschiedene Erscheinungsformen entlockt. Vorder- und Rückseite einer herkömmlichen Gummifußmatte erzeugen in der über die horizontale und vertikale Achse doppelt gespiegelten Anordnung an der Wand reizvolle Muster, in denen man sich ebenso verlieren kann wie in der durch Tiefendynamik entwickelten Sogwirkung, die die Geschwindigkeit der motorisierten Fortbewegung förmlich spüren lässt.
Nach dem Prinzip „Erscheinen von Fläche durch Verschwinden von Fläche“ (Zitat Emilia Neumann) bilden die von kleinen Klammern an der Wand gehaltenen Einzelteile Zwischenräume, die erst durch ihre Kombination an der Wand sichtbar werden. In Neumanns Œuvre begegnet uns immer wieder die Verschiebung und Verdrängung von Masse, die auf diese Art neue Formationen modelliert – etwa in den aufgehängten Objekten E.R.S. sowie in E.F. I (2022, Abb. S. XX – XX). Die monumentale Arbeit fügt sich aus zwei separaten Elementen in einem gewagt erscheinenden Balanceakt zu einer Einheit zusammen. Minimal am Boden aufgestützt und sich nur an einer kleinen Stelle berührend, scheinen die Flächen in unterschiedliche Richtungen zu driften, als wären sie gerade erst auseinandergebrochen, wie tektonische Platten oder Schollen im ewigen Eis. Die scharfen Kanten lassen sie als Ausschnitt von etwas Größerem erahnen, wobei sie selbst aus vielen kleinen Fragmenten bestehen – übereinandergeschobene Bruchstücke mit einer Miniaturlandschaft aus Gräben, Kratern, Wölbungen, Ausbrüchen. Glatt polierte Flächen und schroffe, raue Stellen wechseln sich ab. Farbwolken in Pastelltönen lockern die wuchtige Erscheinung der Formen und die Schwere des Materials auf. Als hätten fliederblaue, goldgelbe und rotbraune Meteoriten eingeschlagen und expressive Gesten hinterlassen. Auch hier „malen“ die Pigmente wieder wie von eigener Hand, die Farbe ist eingeschlossen in den künstlichen Stein. Steht man vor diesem gewaltigen Ereignis aus Masse und Farbe, vermittelt sich der Eindruck eines kurz angehaltenen Prozesses, der sich sogleich fortsetzen könnte.
In welchen zeitlichen Dimensionen Emilia Neumann ihr künstlerisches Schaffen denkt, verdeutlicht der Titel der alle in der Ausstellung gezeigten Objekte und Wandarbeiten umfassenden Werkgruppe: Ectasium bezeichnet ein rund 1,3 Milliarden Jahre zurückliegendes geologisches Zeitalter mit Kontinentenbildung, an dessen Ende erstmals Formen von Lebewesen nachgewiesen wurden. In Neumanns Installation verschmilzt natürlich Gewachsenes mit vom Menschen Gemachtem zu einer sich gegenseitig durchdringenden Größe. In der Auseinandersetzung mit der Überschneidung organischer und technischer Formationen ergänzen sich ihre Objekte mit ihren zurückhaltenden Papierarbeiten (Abb. S. XX – XX). Diese zeigen surrealistisch anmutende Landschaften, die dem ähneln, was wir von Satelliten- und Mikroskopaufnahmen kennen: ferne Gesteinswelten und im Körperinneren liegende Organe. Die feinen Marmorierungen, Pigmentablagerungen und Ölflecken legen offen, wie nah langlebige und fleischlich-vergängliche Substanzen in ästhetischer Sicht beisammen liegen. Hierfür lässt Neumann verflüssigten Pigmenten freien Lauf, während sie den Bildträger in Händen hält und ihre Körperbewegungen die Fließrichtung beeinflussen. Aus kalkuliertem Zufall entstehen Malereien ohne Pinsel.
In Emilia Neumanns intuitivem Arbeitsprozess verschränken sich vom Menschen für den Gebrauch durch den Menschen gemachte Gegenstände mit Neumanns eigener Körperlichkeit – sei es hinsichtlich ihrer Größe, Muskelkraft oder ihrer Bewegungen. Die motivische Zusammenführung von Natur, Mensch und Technik erlebt ihre Entsprechung in der Herstellung durch die Hand der Künstlerin.
Iris Hasler