Isa Bickmann
Heap of debris
„Heap of Debris“, also Haufwerk, ist ein Begriff aus dem Bergbau. Das Deut- sche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm definiert: „haufwerk, n. das auf einen haufen vor der schmelzhütte geschüttete erz.“1 Entstanden ist ein Haufwerk also nicht zufällig, sondern es ist vom Menschen gemacht, was sich im Wortteil „Werk“ widerspiegelt. Das Besondere daran ist, dass die in Haufen geschichteten, aus dem Bergwerk herausgebrochenen Gesteinsbrocken oder ein Gemisch von festen Partikeln im Miteinander physikalischen Bedingungen unterliegen und dadurch eine stabile Gesamtform bilden.
Emilia Neumanns Werk besteht aus in eine Art Schienensystem eingebun- denen überlebensgroßen Modulen, die zur konvexen Seite polierte, zur anderen raue Oberflächen aufweisen. Man differenziert drei Paare dadurch, dass die rauen Innenseiten einander zugewendet sind und die farbigen, polierten Flächen jeweils nach außen zeigen. Durch die in den Gips eingefügten Pigmente und die anschließende Politur der Oberfläche, erhalten die Außenseiten eine an Malerei erinnernde Anziehungskraft, während die Innenseiten Einblick in den Produktionsprozess geben.
Die Künstlerin spielt auf die Armut des Materials an, das wie der Beton, den sie ebenfalls nutzt, mit dem Bauen und der Architektur verbunden ist.
Der Gips ist ein ehrliches, preiswertes, sprödes Material, das jedoch bereitwillig andere Stoffe nachahmt und eine Wertigkeit erhält, wenn man ihm – wie Neumann – Pigmente zugibt und ihn poliert. Gips kommt in der Bildhauerei traditionell als Material für das Modell zur Verwendung, von dem der Bronze- guss abgenommen wird, oder wenn andere Materialien aus Kostengründen nachgeahmt werden sollen. Man erschafft ein Modell aus Gips, von dem man eine Hohlform abnimmt, die mit Metall ausgegossen wird. Das ist neben dem verlorenen Guss, dem Wachsausschmelzverfahren, eine der beiden klassischen Methoden, Abgüsse herzustellen.
Über die Abformung gelingt es Neumann, zu neuen plastischen Ergebnissen zu kommen. Dabei bleibt es ein Rätsel, was die Bildhauerin abgeformt hat. Das sei nicht wichtig und trage nicht zum Verständnis bei, wenn man dies verrate, erwidert sie auf Fragen. So viel kann man aber offenbaren: Sie nutzt für ihre Werke Fundstücke vom Sperrmüll oder aus dem Abbruch von Häusern, Gegenstände des Alltags. Das Suchen und Finden dieser Formen gehört zum Arbeitsprozess wie auch eine Bearbeitung der Fundstücke vor der Abformung. Im vorliegenden Fall wurde Kunststoff mithilfe von Wärme verformt und mit Gips abgenommen. Die veränderte Kunststoffform wurde weiter bearbeitet und wieder abgeformt, usw. Die Module dokumentieren die verschiedenen Zustände der Originalform, die zunehmend ihre klare Kontur verliert. Die Zeit ist ein diesen Arbeitsprozessen innewohnender Faktor, der sich über die zunehmende Verformung nach außen präsentiert. Festgehalten werden Momentaufnahmen einer Formveränderung. Die Stücke zeigen parallel Stadien der Metamorphose einer Abformung.
Farbe gehört zur Skulptur. Der Parthenon in Athen war bunt, der weiße Marmor nur das Rohmaterial, auch wenn wir ihn spätestens seit Winckelmann in seiner Weiße attraktiv finden. So wenig Emilia Neumann die Formvorlagen verraten möchte, so wenig sagt sie zur Farbwahl, nur so viel, dass die Wahl der Pigmente mit Bildern verbunden sind, die auf persönlicher Ebene stattfinden. Es handelt sich um private Erinnerungen der Künstlerin, die sie in Farbe visualisiert. Auch hier möchte sie es den Betrachtern anheimstellen, Assoziationen zuzulassen, denn jede Farbe kann bei der Betrachtung eine Gedankenver- knüpfung mitbringen. Es handelt sich mal um an Jackson Pollocks Dripping erinnernde Farbsprenkel, mal um wie von Naturhand verursachte Farbflecken. Diesen malerischen Aspekt ihres Werkes verbindet Neumann mit Metall, das sie neuerdings in ihren Arbeiten als visuelles Element sichtbar werden lässt – auf die Herstellung einer Plastik verweisendes Armierungseisen konnte man schon früher in ihren Werken entdecken. Den Stahl hat sie in stundenlanger Arbeit erhitzt und damit goldfarbene und braune, violette und blaue Verfärbungen erreicht.
Die einander zugewandten, wie aufgeschnittene Hälften wirkenden Module, in deren Innenleben man schauen kann, stehen in einem Schienensystem, das an maschinelle Prozesse z. B. in der Fleischverarbeitung denken lässt. Es verbindet die Teilstücke zu einer Ganzheit, die wiederum von der Farbigkeit und den Formveränderungen aufgelöst wird. Eines der wichtigen bildhaueri- schen Themen der modernen Kunst, die Serialität, bringt sich auf diese Weise in Erinnerung- zu Zeiten der Minimal Art eine künstlerische Antwort auf die industrielle Fließbandproduktion im Arbeitsleben.2
Das Forum Kunst Rottweil habe, wie Emilia Neumann im Vorfeld sagte, die „ideale Raumgröße“ für dieses Werk, das sie schon länger in sich trage. Ein weiterer Vorteil dieses Raumes sei die Empore, die es ermögliche, von oben auf die Installation zu schauen. Die Künstlerin verfolgt also eine mehrdimensionale, d. h. eine auf den Raum bezogene Herangehensweise an das Projekt: Sie fühlt sich in den Raum ein, schaut sich an, wo Fenster und Türen sind, wie der Raum die Person führt, die ihn betritt, versetzt sich in die Skulptur, wie diese im Raum und auf die Betrachter wirken könnte. Die Skulptur wird also zum Raumkörper, der seine Stasis verliert und fortwährend auf den/die wandernde/n Be- trachter/in im Raum reagiert, sich quasi mitbewegt. Die Skulptur bekommt eine Persönlichkeit.
Emilia Neumann hat den Besuchern einen Pfad gelegt: Beim Eintritt in den Raum laufen wir die Module entlang, deren Oberflächen immer unruhi- ger und zerfurchter werden, drehen uns dann zum Raum herum, erblicken das letzte Modul an der Wand, das sich als Endpunkt der Auflösung anbietet, ersteigen die Empore, sehen geradeaus auf ein kleineres Fragment am Ende des Ganges und werden auf diese Weise zu den Objektkästen geleitet. Wie in einem Schmetterlingskasten finden sich dort farbige Bruchstücke aus Gips, aufgespießt auf einer Styropor-Unterlage. Neumanns zutiefst bildhauerische Motivation leuchtet auf, wenn sie erzählt, dass sie bei der Herstellung versucht, gedanklich durch diesen Gipswald zu laufen. Diese Raumerfahrung will sie auch bei den Reliefs mit den Betrachtern teilen.
Die Gipsstückchen sind Abfall, Bruchstückchen von Güssen, Produkte des Zufalls wie etwa beim Bleigießen, denen in den Augen der Künstlerin ein starker Reiz, ja eine Persönlichkeit innewohnt, sodass sie einen Kunstwert erkannt hat und somit den bereits einmal zur Kunst gemachten Werkstoff auf eine Metaebene führt. Die grenzenlose Offenheit, die das plastische Arbeiten mit sich bringt, wird hier durch einen Rahmen limitiert. Das verkleinert den Hand- lungsraum, setzt ihm Grenzen.
Wie in einer Spirale haben wir uns durch den Raum bewegt und an der Raumerfahrung der Künstlerin partizipiert. Die traditionelle bildhauerische Auffassung sieht in der konvexen Oberfläche eine positive Form, die konkave Form ist dagegen passiv, sie ist die Negativform, die nur dazu da ist, das Positiv herzustellen.3 Diese Unterscheidung tritt im Werk Neumanns in ein Wechselspiel. Die Originalform ist lediglich das Mittel, das zur Hilfe genommen wird, um eine neue plastische Form herzustellen. Der Abguss ist nun nicht das Negativ, sondern das Positiv, denn er ist das finale Produkt, während im klassischen Bronzeguss die Reihenfolge von der Positiv-, über die Negativ-, zur Positivform verläuft. Die Abgussform ist bei Emilia Neumann – anders als in der klassischen Bildhauerei – stets im finalen Werk vorhanden, auch durch ihre Verrätselung.
Bei Emilia Neumanns Raumplastik tritt eine intensive Reflexion über die Dualität oder das Miteinander von positiv/negativ, innen/außen, Ferne/Nähe, Ganzheit/Detail auf. Sie öffnet die Masse der Form durch die paarweise Aufstellung der Module und bietet sie uns als Erzählung an. Der Zeitfaktor, der zum Narrativ gehört, wie er in der Kinetischen Plastik der 1960er Jahre auftrat, ist mehrfach präsent: in der Metamorphose der Abgüsse und der Abgussform als auch im zu erwandernden Parcours. Die Eroberung dieses Raumes mit Formen aus Gips kann nicht nur als Installation bezeichnet werden. Es ist ein Environment, in dem die Besucher mit der Plastik gemeinsam zu einem Teil der Ausstellung werden.
1 „Veith deutsches bergwörterbuch1, 270 (mit älteren belegen).“ Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeich- nis Leipzig 1971. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mo- de=Vernetzung&lemid=GH03400#XGH03400, abgerufen am 14.11.2017.
2 Stichwort: „Monotonie ist schön“. (Charlotte Posenenske und Peter Roehr)
3 Kurt Badt: Raumphantasien und Raumillusionen. Wesen der Plastik. Köln 1963, bes. S. 144–156
Isa Bickmann
Heap of debris
Heap of Debris, or in other words extracted material, is a term that originates from the coal mining industry. The Deutsche Wörterbuch (The German Dic- tionary) by Jacob and Wilhelm Grimm defines it as such: ‘Heap of debris’ a heap of ore from the smelting works.1 A heap of debris has therefore not come about by chance, but was created by people, a fact that is reflected in the word ‘work’. The distinctive aspect about it is that the rocks stratified in heaps and extracted from the mine, or a mixture of solid particles that are subject to physical conditions and thus form a stable overall form.
Emilia Neumann’s work consists of larger-than-life modules integrated into a kind of track system, which have polished surfaces on the convex side and rough surfaces on the other. Three pairs are differentiated by the fact that the rough inner sides face each other and the coloured, polished surfaces face outwards. The pigments inserted into the plaster and the subsequent polishing of the surface provide the outer surfaces with an appeal reminiscent of painting, while the inner surfaces offer an insight into the production process.
The artist alludes to the poverty of the material, which, like the concrete she also uses, is associated with building and architecture. Gypsum is an honest, inexpensive, brittle material that readily imitates other materials and acquires value when, as in the case of Neumann, pigments are added and polished. Plaster is traditionally used in sculpture as a material for the model from which the bronze casting is taken, or when other materials are to be imitated for cost reasons. A plaster model is created, from which a hollow mould is removed and filled with metal. Along with lost casting, this is one of the two classic methods of making casts.
Neumann succeeds in obtaining new sculptural results through moulding. What the sculptor actually used for creating the impressions remains a mystery. When questioned about their origins, she replies that this is not important and would not contribute to understanding her work. Nevertheless, this much can be revealed: she uses found objects for her works that stem from bulky waste or from the demolition of houses, items that were part of everyday use. The search for, and the discovery of these forms is part of her working process, as is the processing of the found objects before an impression is taken. In this case, plastic is deformed through heat and removed with plaster. The altered plastic form is further treated and moulded again, and so forth. The modules document the various states of the original mould, which increasingly loses its clear contour. Time is an inherent factor in these processes, which can be seen in the increasing deformation occurring towards the outside. What has been captured are ‘snapshots’ of changes in form. The pieces show parallel stages of the metamorphosis of an impression.
Colour is part of sculpture. The Parthenon in Athens was colourful, yet the white marble was only the raw material. This is despite the fact that we have found it attractive in its white colour since Winckelmann, at the latest. In the same way that Emilia Neumann does not want to reveal much about the casting forms, so too does she not want to speak much about her reasoning behind her choice of colour. The most she will divulge is that the choice of pigments is linked to images of a personal nature. These are the artist‘s private memories, which she visualizes in colour. Here too, she would like to leave it up to the public to find their own connections, since each colour can convey thought associations when viewing. These are sometimes splashes of colour, reminiscent of Jackson Pollock‘s dripping, sometimes spots of colour caused by nature. Neumann combines this painterly aspect of her work with metal, which she has recently begun to reveal as a visual element in her works. In fact, one could already find within her earlier works the reference of steel reinforcement in the production of a sculpture. She heated the steel in hours of work, from which she achieved gold, brown, violet and blue discolorations.
The modules, which face each other like sliced halves and whose inner workings can be seen, stand in a rail system that is reminiscent of mechanical processes, for example, in meat processing. It connects the pieces to form a whole, which in turn is dissolved by the colour and the changes in form. It brings to mind the notion of seriality, one of the important sculptural themes of modern art, of a time when Minimal Art responded artistically to the industrial production assembly line in working life.2 As Emilia Neumann said in advance, the Forum Kunst Rottweil has the ‘ideal room size’ for this work, the kind she had had in mind for some time. Another advantage of this space is the gallery building design, which makes it possible to look at the installation from above. The artist thus pursues a multidimensional, space-related approach to the project: she gains a feeling for the space, looks at where windows and doors are, how the space guides the visitor entering it, and what effect the sculpture could have on the space and the viewer. The sculpture thus becomes a spatial body that loses its sense of stasis. It conti- nually reacts to the wandering observer in space, as if moving along with it. The sculpture acquires a personality.
Emilia Neumann has laid a path for the visitors: as we enter the room, we walk along the modules, the surfaces of which become increasingly unsettled and rutted. Then we turn around and we see the last module on the wall, which offers itself as the end point of the dissolution. We climb the steps of the gallery, look straight ahead at a smaller fragment at the end of the passageway and are consequently led to the object boxes. As though in a framed butterfly collection, there are coloured fragments of plaster, skewered on a polystyrene base. Neumann‘s deeply sculptural motivation comes to light when she tells us that she is trying to mentally walk through this gypsum forest during production. She also wants to share this spatial experience with the reliefs, together with the visitors.
The pieces of plaster are waste, fragments of castings, products of chance like lead pouring, which possess a great attraction for the artist, even a personality, so much so that she has recognised an artistic value in them. Thus the material that has already been turned into art indicates a meta-level. The sense of boundless openness that the sculptural work brings with it is limited here by a frame. It reduces the space and places limits on the work.
We have moved through space as though caught in a spiral, and participated in the artist‘s experience of space. The traditional sculptural view sees a positive form in a convex surface, whereas a concave form is passive and is the negative form that is only there to produce the positive.3 This distinction is evident in the form of an interaction in Neumann‘s work. The original form is merely the means used to produce a new sculptural form. The casting is not the negative, but the positive, and is so because it is the final product. Yet in classical bronze casting, the sequence runs from the positive to the negative and back to the positive mould. In Emilia Neumann‘s work, quite unlike classical sculpture, the mould is always present in the final work, as an enigma too.
In her spatial sculpture one perceives an intense reflection on the duality or coexistence of positive/negative, inside/outside, distance/proximity, and entirety/detail. She opens the mass of form by setting the modules up in pairs, offering it to us as a narrative. The time factor, which belongs to the narrative as it appeared in the kinetic sculpture of the 1960s, is present in several ways: in the metamorphosis of the casting and the casting mould as well as in the route to be taken. The conquest of this space with moulds made from plaster cannot only be described as an installation. It is an en- vironment in which the visitors become part of the exhibition, together with the sculpture.
1 „Veith deutsches bergwörterbuch1, 270 (mit älteren belegen).“ Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm. 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig 1854–1961. Quellenverzeich- nis Leipzig 1971. http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_py?sigle=DWB&mo- de=Vernetzung&lemid=GH03400#XGH03400, abgerufen am 14.11.2017.
2 Stichwort: „Monotonie ist schön“. (Charlotte Posenenske und Peter Roehr)
3 Kurt Badt: Raumphantasien und Raumillusionen. Wesen der Plastik. Köln 1963, bes. S. 144–156