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Christian Janecke

Brocken von Schönheit.
Emilia Neumanns gipserne Wandarbeiten

In einer Zeit, da an den Künsten vor allem honoriert wird, wenn sie ihre schmeichelhafte bis heikle Eingelassenheit in sie umgebende bzw. konstituierende Kontexte zum Thema machen, wenn sie ihr Heil in der Drift zum nächsten oder Ausflucht auf das andere Medium suchen, haben es Werke diskursiv schwer, angesichts derer auf einen Schlag klar ist, dass ihre Herkunft wie auch ihre Agenda eine andere ist. Dabei muss man allerdings nicht vorneweg an im Greenberg’schen Sinne auf Medienspezifik erpichte Kunst denken, die sogleich jedem Betrachter signalisiert, sie gehöre vollends zur Malerei oder zur Skulptur. Vielmehr kann es sich auch um etwas handeln, von dem uns der erste Anblick nicht ohne weiteres versichert, ob es überhaupt Kunst, Teil von Kunst, oder vielleicht nur eine Art dekadent schöner Hinterlassenschaft künstlerischen Probierens ist. Und es sind dann womöglich diverse Gattungen, Medien darin wie verschmolzen – verschmolzen, und nicht nur beziehungsreich zueinander in Szene gesetzt.
Damit ist man bereits bei der Arbeit von Emilia Neumann: Nicht ausgemacht erscheint dort, ob man eher das malerisch irisierend in unauslotbare Tiefenillusion Lockende oder eher das krustig bis pigmentartig Farbige, im und am Gips haftend, in radikalerGegebenheit bewundern soll; offen ist, ob die leicht konvex gewölbten, mitunter noch vertikal durchwellten Formate in ihrer ansichtsseitigen Ausrichtung auf Bildbetrachter als Relief zu lesen wären oder ob das Dickschichtige gipserner Faktur bei schwerer, materialbordender und zugleich recht kompakter Anlage nicht doch eher zum Wandobjektdrängt; ambivalent bleibt schließlich, wie das an den Rändern bröckelnd Innehaltende samt überstehender Armierungsgitter als gleichsam pittoresker Pentimenti zwar den Eindruck eines Fragmentsnahelegt, latent darauf verweisend, von welch Größerem es als Bruchstück bis vor unsere Augen gelangen konnte, während doch das gleichviel dominierende Rundformat samt seiner materialen wie farblich schmucken Pracht geradezu als Prototyp jener Ganzheitauftrumpft, die seit der Moderne kompromittiert dasteht.
Bei all diesen veritablen Unentschiedenheiten, oder nun genauer gesagt gerade dank des Austrags dieser Unentschiedenheiten im unablässigen Spiel hier überhand nehmender und dort schon wieder zurückgedrängter Kräfte bzw. Aspekte hat es der Betrachter stets mit eigentümlich sinnlicher Geballtheit zu tun. Worin etwas beinahe Unzeitgemäßes liegt, jedenfalls wenn man es vor dem Hintergrund jenes promiskuitiven ‘Referenzialismus’ sieht, der bei installativer Gegenwartskunst dank beziehungreich distanter Verteilung ihrer Elemente in Gang kommt. Dafür scheint gar nicht erst Platz genug zu sein in Neumanns ungeheuer dichten Werken.

Für ihre Serie „Jump and Run“ hat die Künstlerin Satellitenschüsseln mit farbigem Gips ausgegossen. Doch obwohl der Radius dieser eher schnöden Formgeber wiederkehrt und sich beispielsweise auch die dort zur Anbringung nötigen Schraubenköpfe im Gips abdrücken, kommt keineswegs der Eindruck auf, ein Medium wie ‘Fernsehen’, oder gar die abgeformte Sache selbst solle evoziert werden, wie es ausgiebig etwa bei Rachel Whiteread geschieht. Vielmehr qualifizierte allein der Formwunsch – rund, leicht gewölbt, gut handhabbar – die Satellitenschüsseln für diese Aufgabe. Ihr Vorzug ist auch, dass sie die vielfache Einbringung mal dick-, mal dünnflüssiger farbiger Gipse erlauben und dass über den unterschiedlichen Druck auf diese flexibel robuste Gussform auch Struktureffekte physisch verdrängter, zerlaufender Farbe zustande kommen, partienweise nicht unähnlich denen einer Décalcomanie. Bei den zusätzlich körperräumlich vertikal gewellten, daher manchmal wie eine aufgestellte Muschel anmutenden Arbeiten aus der Serie der sogenannten „Koots“ sind Satellitenschüsseln denn auch gar nicht zu gebrauchen, formgebend wirkte dort ein plastisch entsprechend präparierter anderer Untergrund.

Ein zügiges, daher Lücken provozierendes Aufbringen des Gipses auf die Form, ebenso wie dadurch eingerührte, später zerplatzende Luftblasen sowie nicht zuletzt ein voreiliges und daher nur partiell gelingendes Lösen aus der Form, erzeugen eine von Einschlüssen, Fissuren und Unebenheiten in Mitleidenschaft gezogene Oberfläche, die aufgrund der hernach an ihr vorgenommenen mehrfachen Politur aber im Übrigen luxurierend glatt in Erscheinung tritt. Vergleichbares gilt für die Farbe, die sich großteils wolkig ätherisch, dann wieder fließend und verschwommen ergeht, die aber punktuell auch ungelöst in pigmentgefüllten Äderungen wie jenes Erz aufschimmert, von dem wir gelernt haben, es als Hinweis auf ein verborgen dahinter im Innern schlummerndes Potential zu lesen.

Der hier zutagetretende Kontrast, sowohl zwischen glatter und versehrter Oberfläche, als auch zwischen atmosphärisch sich verschwendender und materialiter gebundener Farbe, erinnert uns an Marmor und sogleich auch an dessen künstliches Substitut im sog. Stuckmarmor. Es lohnt durchaus, hier etwas zu verweilen. Denn interessanterweise sind auf diesem Felde die Ähnlichkeiten zwischen Vorbild und Nachbildung tiefer- und weitergehend, als man es sonst gewohnt ist. Das beginnt damit, dass im echten Marmor Anorganisches wie Organisches in unverrückbare Nachbarschaft auf eine Weise sedimentiert erscheint, die im staunend und nachsinnend Betrachtenden die Vorstellung darin abgebildeter bekannter, aber auch bizarrer, noch nie gesehener Dinge und Welten und sogar

Geschehnisse wachruft – wenigstens bei jenen Phantasiebegabten, denen bereits Leonardo in seinem Malereitraktat dazu riet, sich in solche Angesichte zu vertiefen. Man könnte, wenn man genügend Toleranz fürs Kontrafaktische aufbrächte, sogar argumentieren, der werdende Marmor sei nicht wählerisch gewesen, als es darum ging, sich etwas einzuverleiben, und dass er daher neben Naturdingen (wie vielleicht Muscheln) ebensogut auch Artefakte hätte einschließen können, so es sie seinerzeit gegeben hätte!

Richtet man dann das Augenmerk auf menschgemachtenStuckmarmor, der einer erschwinglichen Nachahmung von Marmor, vor allem aber der (z. B. farbkombinatorischen) Übersteigerung seiner Effekte und freilich auch deren unbegrenzter Reproduktion bzw. beliebiger Variation (etwa in ornamentalen Symmetrien) dient, so vermag er – ganz ohne fotografisch reproduktive Zwischenschritte, also allein mittels alter handwerklicher Techniken – echtem Marmor nicht allein verblüffend ähnliche, dem Laien oft ununterscheidbare Effekte zu erzielen, sondern dies auch auf eine Weise, die dem einstigen Werden des echten Marmors entspricht. Die Rede ist hier von der Rolle des Zufalls, die in beiden Fällen eben nicht nur die gleiche, sondern exakt dieselbe sein kann.
Sogar das kulissenhaft Vorgetäuschte des Stucco lustro als bloß aufgemalter Abart des Stuckmarmors erscheint insofern geläutert, als auch hier die kunstfertig herbeigeführten Zufälligkeiten in derErzeugung die nämlichen sein können wie bei der Entstehung echten Marmors.
Was nun hat dies zu tun mit Emilia Neumanns Arbeiten, wenn man einmal absieht von einer äußerlichen Ähnlichkeit mit wie auch immer Marmornem? Ich denke, man darf hier beide Ebenen, die des Schaffens und die des Resultats in Betracht ziehen: Indem die Künstlerin auf die Plastikgussform gipsern flüssige Farben gibt (die später freilich, wie bei einer Hinterglasmalerei, gegengleich zu sehen sein werden), erzeugt sie Malerisches in weitgehender Oberflächengebundenheit. Doch wird die im flüssigen Gips gelöste und dann von klumpigerem Gips beschwerte, mithin gleichsam physisch bedrängte Farbe derart traktiert, dass noch Wochen später, im Zuge des langwierigen Trocknungsprozesses, gewisse nicht bis ins Detail steuer- oder vorwegnehmbare Effekte zum Zuge kommen – Effekte, wie sie sonst volumenreich im ‘ehrlich’ durchkneteten sog. Marmorbrot der Stuckintarsie sistieren (und scheibchenweise davon als erbeuteter Flächenschnitt ablösbar wären bei kunsthandwerklicher Verwendung). Was für die Seite des Machens gilt, für das stets nur ungefähr Kalkulierbare zwischen glücklicher Fügung (týche) und Misslingen, das findet seine Entsprechung auch im Ergebnis. Denn die betörend schönen Oberflächen entführen uns sowohl ins lyrisch Elysische, in Hintergründe, wie wir sie von Watteaus Einschiffungen nach Kythera zu kennen meinen – und wo die Grenzen zwischen

Naturatmosphärischem, Mythologischem und vergegenwärtigtem Lieben durchlässig scheinen –, als auch in die mal mosaizierend kostbare, mal schrundig irdene Aufgebrochenheit einer Oberfläche in all ihrer materialen Jeweiligkeit.

Es sind, jedenfalls für mich, kaum Werke denkbar, in denen brüsker, atemloser, dichter beides zugleich und durch das jeweils andere wäre: Höhenflüge und Bruchlandungen, auf unzeitgemäße Weise unserer Phantasie Flügel Verleihendes und schwere Brocken farbig malträtierter Materie. Die Erfahrung dieser Werke folgt also dem bildhaft ganz der Illusion Ergebenen, das doch an jedem Punkte residiert in den grundlos aberwitzigen Krümmungen des Tellurischen. Ein Echo dieser Erfahrung ist die eingangs für die Werkform als solche beschriebene Ambiguität aus Fragment (offenkundig ob der Ränder, Ausfransungen, Überstände substruktiver Elemente) und Ganzheit (Tondo, sich selbst genügender Bildkosmos).

Ganz im Sinne von Michelangelos einschlägiger Vorstellung, die Skulptur sei eben vom Unwesentliche zu befreien, soll Stephan Balkenhol auf die Frage, wie er einen Löwen bildhauerisch bewerkstellige, einmal geantwortet haben, es gelte eben nur alles wegzuschlagen, was nicht nach Löwe aussehe. Bei Emilia Neuman ist das Belassene nicht anders als das Weggelassene der ‘Löwe’, ohne dass man hinunterkäme auf jenes Nurmehr-Nichts-Bedeutenkönnen einer Pflanze, das Aristoteles denjenigen in Aussicht stellt, die ernsthaft etwas und zugleich dessen Gegenteil aussagen. Mit anderen Worten ist es die Fähigkeit der Kunst, bis fast ins Widersprüchliche hinein Wirkung und Gegenwirkung auf den Plan zu rufen, ohne sich damit aufzuheben – und ohne dass die solcherart fortdauernde Widersprüchlichkeit uns ermuntern würde, sie anders als staunend vor und genährt von der Verdichtung des Werks her zu denken.

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