Cosima Grosser
AUTOMODUS
02. November 2020 – 31. Januar 2021, Allerheiligenkirche Frankfurt am Main
In den Arbeiten Emilia Neumanns spielt die Erfahrbarkeit von Zeit und deren physische Darstellung eine entscheidende Rolle. Die Herstellungsprozesse ihrer Arbeiten werden eingefroren, die Bewegungen in der Zeit der Entstehung der Werke sind für die Betrachter*innen visuell und materiell in ihrem Endzustand nachvollziehbar. Die Objekte Neumanns sind erfahrbar im Raum und werden selbst zu einem erlebbaren Raum mit Außen- und Innenraum. In den Werken geht es nicht mehr nur um das reale Objekt, sondern die eigene subjektive Interpretation davon. Bei der Betrachtung der Skulpturen Neumanns spielt der eigene Betrachtungsstandpunkt eine signifikante Rolle. Erst im Umherwandern und mit dem eigenen Perspektivwechsel sind ihre Objekte in ihrer Gesamtheit nachzuvollziehen. Das Unterbewusste, der Zufall im Herstellungsprozess sowie das Irrationale spielen entscheidende Faktoren in den Arbeiten Neumanns. Die experimentierfreudige Herangehensweise der Künstlerin im Umgang und der Verarbeitung von verschiedensten Materialien wie beispielsweise Gips, Beton, Stahl und Ölfarben steht im Vordergrund. Aus diesen, teils Baumaterialien, schafft Neumann amorphe Skulpturen, die mit einer feinen, sinnlichen Oberflächenstruktur die Betrachter*innen in ihren Bann ziehen.
Im Altarraum stoßen die Besucher*innen auf ein abstraktes, blassbuntes Gebilde, das über dem Altar zwischen vier Säulen zu schweben scheint. Aufgrund seiner Formgebung erinnert es beim ersten Anblick spontan an einen Helikopter, auch wenn es sich erstmals nur sehr fragmentiert präsentiert. Bei näherem Betrachten erkennt man, dass es sich um, wenn auch einen stark deformierten Rumpf und Heckteil eines Helikopters handelt. Dieser wurde seiner eigentlichen Funktionalität beraubt und schwebt als hilfloses, fragmentiertes Objekt kopfüber zwischen den Säulen. Aus Gips, der mit verschiedensten Farbpigmenten versetzt wurde, hat die Künstlerin einen realen Helikopter abgegossen. Dieser Abguss ist fernab der glänzenden, in Industriefarben scheinenden Oberfläche eines echten Helikopters. Das Werk entlarvt sich in diesem Moment selbst als subjektiv-interpretiertes Abbild der Realität. Der Helikopter ist in seiner Gesamtheit massiv, in der Oberflächenstruktur jedoch bei genauerer Betrachtung fragil. Feine farbige Linien und Farbflächen ziehen sich hier über die gesamte Oberfläche. Das Werk präsentiert sich in seiner Gegensätzlichkeit, in einer sowohl offenen als auch geschlossenen Struktur, je nach eigenem Standpunkt. Es ist ein Spiel mit den Betrachter*innen, die nur von Nahem ergründen können was alles auf der Oberfläche vonstatten geht. Unscheinbar und sich mit der grauen Kirchenwand verschmelzend, steht auf einem dunkelgrauen Steinvorsprung ein grau-bläuliches Rotorblatt. Ebenfalls wie dem Helikopter, wurde dem Rotorblatt seine Funktionalität genommen. Es offenbart sich als ein für sich stehendes, isoliertes Objekt im Raum. Anders als bei dem helikopterartigen Objekt ist hier die Ursprungsform deutlicher nachzuvollziehen.
An der Seitenwand der Kirche sind in einem, zu beiden Seiten offenen, Metallrahmen zwei Zeichnungen zu sehen. Bei diesen Papierarbeiten spielt der Herstellungsprozess eine signifikante Rolle. Die Werke werden nicht gemalt, sondern aus Ölsubstanzen in fließenden Bewegungen der Künstlerin Schicht um Schicht in ihren jetzigen Zustand gebracht. Skizzenhafte, fast mystisch wirkende Farbverläufe ergeben sich und offenbaren sich den Betrachter*innen. Die gestischen Farbverläufe erinnern an Tropfen, die von einer Decke herunterfließen, jedoch lässt ihr unbestimmtes Aussehen keine endgültige Bestimmung zu. Die Zeichnungen sind Momentaufnahmen eines flüchtigen Zustandes, so wirkt es doch, dass die Formen jederzeit in andere Gebilde weiterfließen könnten. Ihr momentanes Erscheinungsbild scheint ein vergänglicher Zustand zu sein, der sich jederzeit in unendlich, ineinander fließende Formen verändern kann. Sowohl die Zeichnungen, als auch der Helikopter und das Rotorblatt, bewegen sich zwischen fragmentierten, deformierten Gegenständen und autonomen Objekten. Sie sind gleichermaßen eigenständig in ihrer Erscheinung als auch Bruchstücke eines unbekannten Ganzen. Es liegt an den Betrachter*innen durch subjektive Zuschreibungen zu entscheiden, was sich einerseits als Abbild und andererseits als Original darstellt. Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität gehen bei Neumanns Arbeiten fließend ineinander über und erzeugen eine spannungsreiche Vielfalt an Objekten und Zeichnungen, die offen sind für subjektive Deutungen.