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Christin Müller

Von losen Bruchstücken und unklaren Fragmenten

Unendlich viele kleine Unebenheiten, Risse und Abschabungen. Welche Kräfte haben nur auf diese Oberfläche eingewirkt? Ich stelle mir vor, sie nicht nur mit den Augen, sondern ebenso mit den Fingern abzutasten, zu spüren,
wie sich raue Oberflächen mit glatteren abwechseln, meine Fingerkuppen scharfe Kanten streifen, Bruchstellen berühren oder herausragende Kanten erfassen. Eine Vielzahl an haptischen Eindrücken würden sich dabei in mei- nem Gehirn miteinander vermischen. Wahrscheinlich könnte ich auch noch Minuten nach der Berührung dieses Gefühl in meinen Fingern spüren. Ganz so als hätte sich diese reliefartige Landschaft in das Blut, das meine Finger durchströmt, eingeschrieben. Aber würde ich es vielleicht durch meine Be- rührung zerstören? Es wirkt so massiv und doch so fragil. Ganz langsam ziehe ich meine Hand zurück und konzentriere mich aufs Schauen. Ich versuche, jede einzelne Veränderung des Gesteins visuell zu ergründen und bis zu dem kleinsten Riss, der kleinsten Unebenheit zu inspizieren. Wie haben sich diese Oberflächenstrukturen gebildet? Welche natürliche oder vom Menschen produzierte Gewalt hat dieses ehemals unversehrte Ganze gebrochen?

Diese Risse und Bruchstücke, sie wirken fast wie Wunden. Klaffende Risse, die das Innere der Struktur offenlegen. Es sind Verletzungen, die nie verheilen, ihre Wunden werden nicht wieder zusammenwachsen, denn ihre Bruchstellen wurden versiegelt durch scheinbar natürliche Wucherungen, die ungehindert das einstmals vom Menschen geformte kulturelle Gut ganz lang- sam Stück für Stück für sich einnehmen.

Ich sehe die bewegte Fläche direkt vor meinen Augen. Ob sie wohl einer Explosion standgehalten hat, die ihre Stärke und Zerstörung auf die Ober- fläche dieser Überreste in Form von scheinbar unkontrollierbaren Rissen ein- gebrannt hat? Ich versuche, mir die vorherige Erscheinung dieses steinernen Reliktes vorzustellen. Hätten meine Fingerspitzen eine glatte, gleichmäßig geformte Silhouette befühlt? Wäre es ebenmäßig geformt und hätte es in einer klar strukturierten Farbigkeit dem Auge eine eindeutige Ordnung ge- boten? Ganz bestimmt sogar hatte es eine eindeutige Funktion. Es war Teil eines Ganzen, bot Schutz vor etwas, oder erfreute ganz einfach durch seinen ästhetischen Anblick. Doch etwas beendete sein vorheriges Dasein. Ent- zweite es von der ganzheitlichen Struktur, die es umgab. Es ist das Überbleib- sel, das standhielt und die Zeiten überdauert hat. Es trotzte der Zerstörung, bäumte sich auf gegen den Verfall wie ein rebellischer Krieger, der nach der Schlacht erhobenen Hauptes und gleichzeitig gezeichnet vom Kampf seinen Stützpunkt nicht verlassen will und eins wird mit seiner Umgebung. Gleich- zeitig bleibt es Zeugnis eines Ereignisses, das sich unweigerlich in die Ober- fläche eingeprägt hat.

Doch zu welchem Ganzen gehört dieses Relikt? Ich gehe um die Überres- te herum, inspiziere die Löcher, die Bruchstellen, die Rückseite, gehe einen Schritt zurück, entferne mich langsam, um die gesamte Erscheinung zu erschließen. Sie wirkt gewaltig, und doch lässt sich nur erahnen, welche Dimensionen wohl die Gesamtkonstruktion ergeben hat.

Ich ertappe mich dabei, immer weiter nach dem Ursprung des Objekts zu suchen, es abzugleichen, festzustellen, dass es nur vage Übereinstim- mungen gibt und gleichzeitig erfreut zu realisieren, dass mir dieses fehlende Puzzleteil durch sein Nichtvorhandensein doch eigentlich die größte Freude bereitet. Denn es ist, was es ist, es braucht kein originäres Ganzes, das es eindeutig beschreibt und an unsere Umwelt rückbindet. Es ist sowohl Über- bleibsel als auch autonomes Objekt, dessen Bedeutung und Zuschreibung stetig und mit jeder einzelnen subjektiven Betrachtung wächst.

 

Christin Müller

Of Loose Fragments and Unclear Origins

There are an infinite number of small uneven surfaces, cracks and corra- sions. Just which forces have had such an effect on this surface? I imagine not only running my eyes over it, but also my fingers, feeling how rough surfaces alternate with smoother ones. Letting my fingertips touch sharp edges or fractures, or grasping protruding edges. A great number of haptic impressions would mingle in my mind. I would probably still feel this sensation in my fingers minutes after touching them. It would be as if this relief-like land- scape had inscribed itself into the blood flowing through my fingers. Would I, however, perhaps destroy it by touching it? It seems so solid and yet so fragile. Very slowly, I withdraw my hand and concentrate on observing. I try to visually understand every single change in the rock and examine it, right down to the smallest crack, the least unevenness. How did these surface structures form? What natural or man-made violence broke this formerly intact whole?

These cracks and fragments look almost like wounds. Gaping cracks reveal the inside of the structure. They are injuries that never heal. Their wounds will never grow together again because their fractures have been sealed by seemingly natural growths that slowly and unhindered take control of what was once cultural property that people had created.

I see the unsettled surface directly before me. I wonder if the surface withstood the might and destruction of an explosion that burnt its way into the surface, leaving behind uncontrollable cracks. I try to imagine the prior appearance of this stone relic. Would my fingertips have felt a smooth, evenly shaped profile? Would it have offered the eye an obvious sense of order, if it were evenly formed with a clearly structured colour? It certainly had a discernible function. It was part of a whole, offered protection from something, or simply delighted with its aesthetic appearance. Yet something brought an end to its previous existence. Separated it from the holistic structure that surrounded it. It is the remnant that has stood the test of time. It defied destruction and resisted decay like a rebellious warrior who, after the battle, raises his head with its distinguishing battle marks and refuses to leave his base – instead becoming one with his surroundings. At the same time, it remains a testimony to an event that has inevitably left its effect on the surface.

But to which whole does this relic belong? I walk around the remains, inspect the holes, the fractures and the rear. I take a step back and slowly remove myself to see the form in its entirety. It seems enormous, and yet one can only guess what dimensions the overall structure probably had.

I find myself constantly searching for the origin of the object, comparing it, realising that there are only vague similarities, and at the same time being pleased to understand that the non-existence of this missing piece of the jigsaw puzzle actually gives me the greatest pleasure. For it is what it is. It does not need an original whole that clearly describes it and connects itself to our environment. It is both a remnant and an autonomous object, the meaning and attribution of which is constantly growing with each subjective view.

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