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Marina Rüdiger

Emilia Neumann

Das Wasser ist so ewig wie die Berge. Sie sind seit Urzeiten in Bewegung und prägen sich gegenseitig. Erosionen nehmen – Sedimentationen geben der Umwelt Formen und verewigen damit die natürlichen Bewegungen unseres Planeten.
Emilia Neumanns Arbeiten sind in Formen gegossene Farben. Farben, die nicht nur eine Oberfläche bespielen, sondern das Material durchdringen, sich von ihm aufnehmen und tragen lassen, sich in ihm auflösen und mit ihm Eins werden. Gelöst in Gips oder Beton, nehmen sich die Farben mit einem Schütten, Tröpfeln, Gießen oder Werfen einer Form an, die sie durch ihre Bewegung zeichnen. Es entstehen Skulpturen, deren physische Erscheinung sich von ihrer tatsächlichen materiellen Qualität löst. Ihre Farben lassen sie leichter, schwerer, wärmer, kühler, fester oder weicher erscheinen als die Summe ihrer Elemente es vermuten lässt.
Das Spiel mit dem Fluss der materialisierten Farbe wird in ihren Papierarbeiten noch greifbarer. In Wasser gelöstes Eisenoxid, Wallnussextrakt, Pigmente, Alaun, Natron, Öl und andere Stoffe werden in großzügiger Flüssigkeit auf das Papier aufgetragen und in Bewegung gebracht. So entstehen Wellenformen, innerhalb derer sich die Materialitäten gegenseitig anziehen, abstoßen, ineinander ausflocken, kristalline Strukturen bilden oder Schlieren ziehen. Was sich als Duktus, Setzung oder verspielte Präzision der malerischen Hand zeigt, ist Illusion, denn hier wird der Reaktion chemischer Prozesse ein Bewegungsraum gegeben, den sie sich spielerisch aneignen.
Die Formen der Skulpturen wirken organisch, fast natürlich und spiegeln so das Erdzeitalter in dem wir uns befinden. Im Anthropozän ist der Mensch der Faktor, der den größten Einfluss auf seine Umwelt hat. Er formt Flussläufe, Meeresufer und Berghänge – nicht zuletzt ist er es, der einen markanten Einfluss auf das aktuelle und zukünftige Klima hat. Emilia Neumanns Skulpturen nehmen diese künstliche Natürlichkeit auf und geben ihr eine Form. So entpuppt sich die organische Anmutung ihrer Skulpturen bei der Annäherung als Trugbild, blitzen doch immer wieder Spuren industrieller Fertigung auf – unnatürlich gleichmäßige Perforierungen, gemaserte Oberflächen – Formen und Strukturen, die an Bekanntes und Alltägliches aus der Warenwelt erinnern. Materialien die unsere Generation ihrer Umwelt hinterlassen wird. Den Tag in ferner Zukunft, an dem sie als Versteinerungen ihrer Abformen aus dem Sediment gewaschen werden, holen Emilia Neumanns Arbeiten spielerisch in die Gegenwart.
Doch woher kommen diese Formen? Sie stammen aus unserer Umwelt und spielen gleichzeitig mit deren landläufiger Definition. So sind Emilia Neumanns Formfindungen Resultate des bewussten Sehens eben jener Formen, die unsere Umwelt umgeben, die sich an sie anschmiegen und sie umgarnen. Gedanklich steckt Emilia Neumann innerhalb dieses Raums Grenzen ab und gibt so dem Umraum ein definiertes Volumen. Dem Raum, der sich zwischen zwei Gegenständen aufspannt, kann ebenso ein Körper gegeben werden wie demjenigen, der durch einen Gegenstand und eine Raumecke begrenzt wird. Die Fortführung dieses Gedankens verlässt den architektonischen Raum und begibt sich nach draußen. In unserer Umwelt eröffnen sich weitere Denkmodelle für Formen, die in Emilia Neumanns Güssen ihr künstlerisches Alter Ego finden. Die leicht konvexe Form der Erdkrümmung, die unendliche Tiefe des Mariannengrabens, die geschwungenen Felsen des Grand Canyons – skaliert und abstrahiert finden sie ihren Weg ins Atelier. Die finalen Formen können geschlossen oder offen sein, flach oder voluminös, ihnen gemeinsam ist ihre Existenz als Fragment, denn eine Ganzheit, Vollendung oder Perfektion streben die Formen nicht an. Im Gegenteil, der Reiz besteht im Verweis, im Andeuten, Aufwühlen und Fragen stellen.

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